Bildungsgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit, Chancengleichheit – viele dieser Begriffe schwirren im Raum, wenn es um die Frage geht, ob alle Kinder und Jugendlichen die gleichen Chancen auf Bildungserfolg haben. In seinem Workshop auf dem LiGa-Schulleitungsfachtag legt Prof. Dr. Martin Heinrich dar, wie die Ungerechtigkeiten des Bildungswesens in Begriffen verankert sind – und wie eine Sensibilisierung für das Thema „Bildungsungerechtigkeit“ gelingen kann. Er ist Professor für Erziehungswissenschaft/Schulentwicklung und Schulforschung an der Universität Bielefeld.
Die Paradoxie der Chancengleichheit
Chancengleichheit – dieser Begriff hat es in sich, wie Prof. Dr. Heinrich zu Beginn seines Vortrags erläutert. Er zitiert Otto/Schrödter (2008, S. 60): „Das Prinzip der Chancengleichheit findet Anwendung beim Wettbewerb um knappe Ressourcen im Rahmen einer hierarchischen Sozialordnung. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Forderung nach Chancengleichheit letztlich die Ungleichheit zum Zweck hat. Dies ist als ‚Paradoxie der Chancengleichheit’ (Heid 1988) bezeichnet worden.“
Nicht die Chancen, sondern die Bildung gerecht verteilen
Reicht es, nur die Möglichkeiten gerecht zu vergeben? Oder sollte nicht besser die Bildung verteilt werden? Der oft gehörte Satz „Er oder sie hat ihre Chance gehabt“ ist aus der Sicht von Prof. Heinrich eine einfache Rechtfertigung dafür, dass nicht alle Schülerinnen und Schüler ihre Schullaufbahn erfolgreich abschließen. Eigentlich hätte die Politik Minimumstandards einführen müssen, um Schulerfolg und Bildungsgerechtigkeit zu messen, sagt Prof. Heinrich. Die unterste Messlatte sollte also definiert werden – das, was alle Schülerinnen und Schüler in ihrer Schullaufbahn auf jeden Fall lernen sollten und nicht das, was der Durchschnitt erreichen muss.
Stärkere Sensibilisierung für Bildungsungerechtigkeit
Prof. Heinrich empfiehlt eine stärkere Sensibilisierung von schul- und sozialpädagogischen
Professionellen für den Gegenstand der Bildungsungerechtigkeit und dessen Reproduktionslogiken. Denn im Schulalltag kommt es immer wieder zu Situationen, in denen Lehrkräfte unbewusst soziale Ungleichheit festigen. Unbedachte, von Vorurteilen geleitete Reaktionen entscheiden über den Ausgang kleiner Vorfälle, können aber weitergehend auch ganze Schullaufbahnen beeinflussen. Im täglichen Umgang mit den Schülerinnen und Schülern haben Pädagoginnen und Pädagogen nicht immer Zeit, ihre Handlungsoptionen und Antworten zu durchdenken. Umso wichtiger ist es, Situationen im Nachhinein noch mal durchzuspielen. Wie hätte ich anders reagieren können? Welche Wendung hätte das Gespräch dann genommen? Wollte mein Gegenüber wirklich das ausdrücken, was ich gedacht habe? Und warum bin ich davon ausgegangen, dass er ausgerechnet das meint und nicht etwas Anderes?
Fallbeispiele aus den Schulen: Welche Handlungsoptionen gibt es?
Angeregt diskutieren die Teilnehmenden des Workshops Beispiele aus dem Schulalltag. Einem muslimischen Schüler während des Ramadans vorzuschreiben, wann er etwas zu sich nehmen muss, führt das Gespräch in eine Sackgasse und beendet es höchstwahrscheinlich sofort. „Du musst aber essen und trinken“, wäre genau die falsche Antwort gewesen. Ein weiteres Fallbeispiel zeigt ein Dilemma auf, vor dem eine Schulleiterin steht. Eine eigentlich leistungsstarke Schülerin aus einer sozio-ökonomisch benachteiligten Familie schreibt in ihrer Abschlussprüfung eine sehr schlechte Note und würde im Falle einer Wertung die Gymnasialqualifikation nicht erhalten. Wenige Tage nach der Prüfung stellt sich heraus, dass die familiäre Lage sich derart zugespitzt hat, dass die Schülerin aus der Familie genommen wurde und dadurch destabilisiert war. Die Schulleiterin muss sich entscheiden: Eine „regelgetreue“ Wertung führt die schulische Laufbahn des talentierten Mädchens in eine Sackgasse und hat starken Einfluss auf ihre sozialen Aufstiegsmöglichkeiten. Die Note nicht zu werten, wäre jedoch ein Gesetzesverstoß.
In Kleingruppen arbeiten die Teilnehmenden nach einer Methode, die Prof. Dr. Martin Heinrich auch in die Lehrerbildung integrieren möchte. Denn Forschungen haben ergeben, dass sich gerade Studierende von Regeln und Vorurteilen leiten lassen und so oft unbewusst soziale Ungleichheiten festigen statt aufbrechen. Bei dieser Methode geht es um die Diagnose und Reflexion von Bildungsungerechtigkeit anhand ausgewählter, widersprüchlicher Anforderungen an das Lehrerhandeln (nach Helsper) sowie die Erarbeitung von Handlungsoptionen. Zu diesen sogenannten Antinomien zählen Nähe vs. Distanz, Person vs. Sache und Differenzierung vs. Homogenisierung.
Hier können Sie die Powerpoint-Präsentation von Prof. Dr. Martin Heinrich herunterladen.
Hier können Sie im Handout den Arbeitsauftrag für die Gruppenarbeit nachlesen.
Die Methode lässt sich auch im Kollegium anwenden.