Am 23. Mai 2018 machten sich 26 Personen auf den Weg nach Norwegen. Ihr Ziel war die Hauptstadt Oslo. Norwegen kann mit vielen Superlativen aufwarten. Das Land im hohen Norden hat eine längere Küstenlinie als die USA, obwohl es 27-mal kleiner ist. Es ist das Land, in dem der Käsehobel erfunden wurde und mit einem der – laut Human Development Index – höchsten Lebensstandards der Welt. Die LiGa-Reisegruppe war jedoch an etwas anderem interessiert – dem norwegischen Bildungssystem.
Bereits auf der Fähre wurden die Teilnehmenden durch Maren Wichmann, Ricardo Grams und Joana Poloschek von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung auf das norwegische Bildungssystem eingestimmt. Sie erfuhren wie Norwegen seit 2006 mit der „Kunnskapsløftet“ („Knowledge Promotion“) seine Bildung grundlegend reformierte. Denn PISA 2000 war nicht nur für Deutschland ein Schock, auch die Norweger waren überrascht, sich im Mittelfeld wiederzufinden. Sie zogen daraus Konsequenzen und entwickelten neue Instrumente zur Entwicklung und Steuerung von Qualität an norwegischen Schulen.
Ähnlichkeiten zum norwegischen System
Aus Perspektive der schleswig-holsteinischen Besuchenden ist das norwegische System in vielerlei Hinsicht sehr interessant. Sowohl in Norwegen, als auch in Schleswig-Holstein wurden Förderschulen aufgelöst sodass Schülerinnen und Schüler inklusiv unterrichtet werden. Das norwegische Schulsystem geht dabei aber noch weiter als das schleswig-holsteinische: Bis zur 10. Klasse lernen alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam.
Norwegen liegt dank seiner Bildungsreformen bei PISA seit 2006 über dem Durchschnitt der Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD). Die „Reform der Wissensförderung“ bezog sich auf die Primar- und Sekundarstufe I und II. Sie zielte vor allem darauf ab, grundlegende Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler zu stärken. Die Reform wurde verbunden mit einer Bewegung zum ergebnisorientierten Lernen, der Erstellung neuer Lehrpläne für jedes Fach mit eindeutigen Zielen für die Schülerinnen und Schüler, einer Neuverteilung von Lehrer- und Trainingsstunden und mehr Autonomie für die Schulen.
Die 13 Schulleitungen, 8 Schulaufsichten, die Vertreterin des Instituts für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein (IQSH) und die vier Stiftungsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter interessierten sich vor allem für drei Fragestellungen, die sie vor Ort untersuchen wollten:
- Wie konnten in Norwegen Qualität und Lernerfolg gesteigert werden?
- Wie wird dort das individualisierte Lernen gefördert?
- Auf welche Art und Weise arbeiten Schulaufsichten (im norwegischen „Skolesjef“) und Schulleitungen in Norwegen zusammen?
Vollgepacktes Programm
Die folgenden zwei Tage waren bestimmt durch ein straffes Programm, um möglichst viele unterschiedliche Eindrücke zu sammeln und über Erfolgsfaktoren zu diskutieren. Die Teilnehmenden besuchten die an Oslo angrenzende Lørenskog-Kommune, bei der sich auch die Hammer Skole, die Majorstuen Skole und die Deutsche Schule Oslo vorstellten.
Während der verschiedenen Vorträge u.a. von Dr. Jan Merok Paulsen von der FH Oslo/Akershus und Diskussionen wurden folgende Thesen deutlich:
1. Der Mensch steht im Mittelpunkt
Den Kern des norwegischen Bildungssystems bildet das „Curriculum“, das den Mensch und sein Bedürfnis zum Lernen und zur Entwicklung in den Mittelpunkt stellt. An dieser Grundlage richten sich alle Qualitätsrahmen und Fachlehrpläne aus. In der Umsetzung zeigt sich dies zum einen in der Beziehung zwischen Lehrkräften und den Schülerinnen und Schülern (die sogenannte „Relasjonskompetanse“, die auch gesetzlich streng verankert ist) sowie der Führungskultur an den von uns besuchten Schulen.
2. in gemeinsames Verständnis von Lernqualität
„Haben Sie ein gemeinsames Verständnis von Lernqualität? Und wann sprechen Sie darüber an Ihrer Schule?“, fragte Marianne Mette Stenberg, Schulleiterin der Majorstuen Skole, die Anwesenden. In Norwegen scheinen sich die Schulen mit dieser Frage genau auseinanderzusetzen. Die Grundlage bilden die verschiedenen vom Staat herausgegebenen Materialien wie beispielsweise das Curriculum, der Qualitätsrahmen und weitere Standards. Zudem setzen sich die Schulteams mit dieser Frage eigenständig auseinander.
3. Datenbasiertes Bildungsmonitoring als Unterstützung für Schulaufsichten und Schulleitungen
Neben den weichen Faktoren spielt in der Qualitätssicherung der norwegischen Schulen das datenbasierte Bildungsmonitoring eine große Rolle. Wie behält die Schulleiterin der Majorstuen Skole den Überblick bei 900 Schülerinnen und Schülern? Alle Ergebnisse der nationalen Tests und Vergleichsarbeiten werden systematisiert digital festgehalten, sodass die Schulleiterin in wenigen Augenblicken einen Eindruck über einzelne Schülerinnen und Schüler oder über den gesamten Jahrgang gewinnen kann. Diese Daten bilden die Grundlage für Gespräche mit den Lehrkräften. Außerdem werden Unterrichtsbesuche nach der Vorlage des Stanford-Protokolls ausgewertet.
4. Voneinander Lernen gilt für alle!
Dialogische Verfahren sowie das Prinzip des „Voneinander Lernens“ trafen wir in allen Bereichen an. Weit verbreitet ist das Bilden von Tandems und Teams aus Lehrkräften an den verschiedenen Schulen. In der Lørenskog-Kommune lernen außerdem die verschiedenen Schulformen voneinander: Hier besuchen die Lehrkräfte und Schulleitungen der Barneskole (1.-7. Klasse) regelmäßig die Ungdomskole (8.-10. Klasse) und umgekehrt. Und die Schülerinnen und Schüler? Sie lernen miteinander zu kooperieren und gemeinsam kreative Lösungen zu finden, beispielsweise in den iPad Klassen der Majorstuen Skole.
5. Die Zusammenarbeit der Schulaufsichten und Schulleitungen ist dialogorientiert
In der Lørenskog-Kommune entwickelte die Schulkaufsicht 2011 eine jährliche dialogorientierte Evaluation der Schulen. Diese Evaluation setzt sich aus drei Schritten zusammen: dem Besuch des Unterrichts in verschiedenen Klassenstufen, der Gesprächsführung mit der Schulleitung und Gesprächen mit Vertretungen der Schülerschaft, der Eltern und der Lehrkräfte. Anschließend nimmt die Schulaufsicht an einem Organisationsentwicklungstag der Schule teil. Zum Abschluss werden die gesammelten Daten gemeinsam mit der Schulleitung reflektiert und über weitere Entwicklungsschritte diskutiert.
6. Die Qualitätsentwicklung an norwegischen Schulen orientiert sich u.a. an internationalen Forschungsergebnissen und Konzepten
Um sowohl Leitungsteams an Schulen effizient und positiv zu steuern als auch Kinder und Jugendliche auf eine Zukunft vorzubereiten, deren Herausforderungen wir nur erahnen können, blickt Norwegen weit über den Tellerrand hinaus. Für die Organisationsentwicklung hob Marianne Mette Stenberg von der Majorstuenskole vor allem die Forschung von Viviane Robinson („Reduce Change to Increase Improvement“, „Student-Centered Leadership“), Michael Fullan und John Hattie („What Works Best in Education: The Politics of Collaborative Expertise“) hervor. Auch im Unterricht zeigt sich eine deutliche Annäherung an internationale Konzepte. Als roter Faden zogen sich die sogenannten 21st Century Skills durch die Schulprogramme der einzelnen Schulen.
Der Rahmen für das 21st Century Learning wurde mit Lehrkräften, Bildungsexperten, Unternehmerinnen und Unternehmern Anfang 2000 erarbeitet. Die Expertengruppe fragte sich dabei: Was brauchen wir für Fähigkeiten, um im 21. Jahrhundert ein selbstbestimmtes Leben zu führen und gesellschaftliche Verantwortung übernehmen zu können? Die 21st Century Skills sind also ein zukunftsorientiertes Rahmenkonzept für diverse Lerninhalte und Wissensfundamente in der Primar-, Sekundar-, Tertiär- und lebenslangen Weiterbildung.
Ausgangspunkt war die Feststellung, dass die traditionelle Schulbildung nicht mehr der Realität von Lernenden gerecht wurde und Menschen nicht auf die vielfältigen Herausforderungen unserer Zeit vorbereitet werden. Dazu gehören u.a. die Zunahme an Informations- und Medientechnologien, die Schaffung neuer Berufe, während alte Berufe verschwinden sowie die im 21. Jahrhundert vermehrt entstehenden globalen Krisen, wie Umweltkatastrophen und -verschmutzung, Knappheit von Nahrungsmitteln und Trinkwasser, Kriege und Menschenrechtsverletzungen und starke Migrationsbewegungen.
Hier können Sie den Framework for 21st Century Learning einsehen.
7. Die umfassende Ausbildung von Schulleitungen führt zur Qualitätssicherung und -entwicklung an den einzelnen Schulen
In Norwegen werden die Schulleitungen durch ein umfassendes Masterstudium auf ihre Führungsaufgaben sowie auf die Qualitätssteuerung vorbereitet.
8. Qualitätsentwicklung wird Zeit eingeräumt
Marianne Mette Stenberg wurde ursprünglich an die Majorstuen Skole geholt, um die schwächelnde Institution wieder in eine attraktive Schule zu verwandeln. Ihr Tipp ist: „Geben Sie sich Zeit für einen Organisationsentwicklungsprozess: Das dauert drei bis fünf Jahre.“ Auch die Lørenskog-Kommune zeigte auf, dass qualitätsvolle Veränderungsprozesse Zeit brauchen. Sie stellte ihren 10-jährigen Entwicklungsplan für Qualität im Kindergarten und Schule („Kvalitet i Barnehagen og Skole“) vor.