Wenn von vorbildlichen Bildungssystemen und Erfolgen bei den PISA-Studien die Rede ist, wandern die Blicke schnell gen Norden. Spätestens seit der ersten PISA-Studie vor knapp zwanzig Jahren haftet Finnland der Ruf eines Vorzeige-Bildungssystems an. Bei der länderübergreifenden Abschlussveranstaltung von „LiGa – Lernen im Ganztag“ am 24. September in Berlin gab die finnische Schulentwicklungsforscherin und Schulleiterin Marja Martikainen den Teilnehmenden einen Einblick in das finnische Bildungssystem und ihre Arbeit an der Viikki Übungsschule der Universität Helsinki.
Denkkompetenz und Lernen lernen
Ein Grundstein des finnischen Bildungssystems ist die Kompetenzorientierung. „Es geht nicht darum, dass die Schule Wissen verbreitet, sondern darum, dass die Schülerinnen und Schüler Kompetenzen erwerben. Dazu zählt auch die Kompetenz, Wissen zu erwerben“, sagte Martikainen. Eine wesentliche Kompetenz ist deshalb die Denkkompetenz und das „Lernen lernen“. Eine ebenso große Rolle spielen die Kompetenz der Alltagsbewältigung sowie die Multilese- und Multimediakompetenz. Das bedeutet, dass Schülerinnen und Schüler in der Lage sind, Informationen aus verschiedenen Kanälen aufzunehmen und zu verarbeiten. Dazu zählen digitale Kanäle genauso wie analoge, wie Martikainen an einem praktischen Beispiel erklärte: „Wir alle kennen die heutigen Messenger-Nachrichten und ihre bunten Bilder. Es wird immer wichtiger, auch die visuellen Informationen zu interpretieren.“
Die finnischen Schulen haben in der Umsetzung der Lehrpläne große Freiheiten. Wie das vorgeschriebene Curriculum umgesetzt und welche Schwerpunkte gesetzt werden, dürfen sie selbstständig entscheiden. Eine Schulaufsicht, die sie dabei kontrolliert, gibt es in Finnland nicht mehr. Auf die Frage, was passiert ist, als diese Ende der Achtzigerjahre abgeschafft wurde, antwortete Martikainen: „Nichts.“ An die Stelle der Schulaufsicht ist das Zentralamt für Unterrichtswesen getreten. „Aufgabe des Amts sind nicht Inspektion und Kontrolle, sondern die Unterstützung bei der Schulentwicklung“, erklärte Martikainen.
Fächerübergreifendes Lernen gibt den Inhalten neuen Sinn
Das interdisziplinäre Lernen stellt einen weiteren wichtigen Baustein im finnischen Schulsystem dar. Es ist ein Mittel, um die Denkkompetenz und Kreativität der Schülerinnen und Schüler zu fördern. Zudem stärkt das interdisziplinäre Lernen die Beziehungen zwischen den Fächern und trägt somit zu einer Weiterentwicklung der Schulkultur bei. Durch Thementage oder -wochen, fächerübergreifende Lernprojekte oder die Periodisierung erfahren die Inhalte einen neuen Sinn. Die Beziehungen zwischen den einzelnen Fächern werden sichtbar. Im periodisierten Unterricht erhalten bestimmte Fächer oder Fächergruppen für einen festgelegten Zeitraum eine besondere Bedeutung und werden in konzentrierter Form unterrichtet.
Auch in Finnland stellt sich beim interdisziplinären Arbeiten die Frage nach den Ressourcen. „Die wichtigste Rolle beim interdisziplinären Arbeiten spielt die Schulleitung. Es ist ihre Aufgabe, die geeigneten Strukturen für das interdisziplinäre Arbeiten zu schaffen. Dabei muss man nicht immer groß denken. Fächerübergreifendes Lernen kann auch im kleinen Rahmen ungesetzt werden“, sagte Martikainen.
„Wir können die Digitalisierung nicht stoppen!“
Auch das finnische Schulsystem befindet sich in einem stetigen Wandel. Ab 2021 gilt ein neues Curriculum für die gymnasiale Oberstufe, dessen Kernpunkte Martikainen ihrem Publikum vorgestellt hat. Es zeichnet ein Bild von der Zukunft, in dem Fachwissen, Bildungsabschlüsse und die Digitalisierung an Bedeutung gewinnen. In einer immer komplizierter werdenden Welt braucht es eine Stärkung der Zusammengehörigkeit und des Engagements füreinander.
„Die Digitalisierung lässt sich nicht stoppen. Die Schule kann nicht in der analogen Welt verbleiben, sondern muss mit dieser Entwicklung mitgehen“, appellierte Martikainen an die Teilnehmenden. Es ist deshalb wichtig, dass Schulen sowohl die physischen als auch die digitalen Lernumgebungen zusammen denken. „Vor fünf Jahren haben unsere Schülerinnen und Schüler bereits die Hausaufgaben mit dem Handy von der Tafel abfotografiert. Das hat mich damals beeindruckt. Heute können Schülerinnen und Schüler, die krank sind, alle Inhalte online abrufen und nachholen.“
Martikainen weiß von konkreten Verbesserungen aus dem Schulalltag zu berichten. Im Matheunterricht halten die Lehrkräfte den Lösungsweg für eine Aufgabe am Smartboard fest. Später können die Schülerinnen und Schüler die Aufzeichnungen online abrufen und nachvollziehen. Wichtig ist Martikainen dabei, dass digitale Tools nicht das Ziel, sondern eine Hilfestellung zum Erreichen des eigentlichen Ziels sind. „Bücher sind genauso wichtig. Ich freue mich, wenn unsere Schüler im Finnischunterricht sitzen und in einem Buch lesen.“
Veränderung braucht Zeit und endet nicht
Damit sich die Schule kontinuierlich weiterentwickeln kann, braucht es zeitliche Ressourcen für das gesamte Kollegium. Jeden Mittwochnachmittag werden die Schülerinnen und Schüler nach Hause geschickt und die Lehrkräfte treffen sich in ihren Fachteams und Arbeitsgruppen. Diese Treffen sind an die Stelle der Lehrerkonferenz getreten, wodurch wiederum wichtige zeitliche Ressourcen frei geworden sind.
Bei allen Veränderungen, die an Schulen angestrebt werden, gilt für Martikainen insbesondere eins: Die Schulleitung allein kann eine Schule nicht verändern. Ihre Aufgabe ist es, die Lehrkräfte bei Veränderungen zu unterstützen. Und da Schulen sich immer Verändern, ist es die Aufgabe von Schulleitungen, ihre Schule nicht nur zu managen, sondern diese auch zu führen. „Veränderung endet nie. Wir erreichen nie den Punkt, an dem wir in der Schule sagen, dass wir fertig sind, dass wir alles erreicht haben. Und das ist gut so“, resümiert Martikainen zum Abschluss ihres Vortrags.