Lernen die Welt zu verändern

19.10.2021 - Unter dem Thema: „Lernen die Welt zu verändern – Schule ganzheitlich entwickeln, selbstorganisiertes Lernen ermöglichen und begleiten“ fand am 11.Oktober 2021 eine Impuls- und Austauschveranstaltung des Programms „LiGa – Lernen im Ganztag“ in Kooperation mit dem Referat 22 in Magdeburg statt.

©DKJS/Anna Kolata

„Bereit, die Welt zu verändern? Ja! Denn darum sind sie heute hier.“ So begrüßte Sabine Heklau vom Referat für Sekundar- und Gemeinschaftsschulen des Landesschulamtes Sachsen-Anhalt die insgesamt 95 Teilnehmenden der Impuls- und Austauschveranstaltung im Alten Theater in Magdeburg. Unter den Teilnehmenden fanden sich 45 Schulleitungen, Lehrkräfte sowie Schulsozialarbeiter:innen von Sekundar- und Gemeinschaftsschulen, Gesamtschulen sowie einigen Gymnasien des Landes. Auch über 20 schulfachliche Referent:innen und Mitglieder der schulpsychologischen Beratung waren der Einladung gefolgt.

Die Veranstaltung thematisierte im Kern zwei Fragestellungen: Wie gelingt es Schule, ganzheitlich und im Einklang mit einer Bildung für nachhaltige Entwicklung zu denken? Und wie können Schüler:innen bestmöglich begleitet und unterstützt werden, um zu aktiven Gestalter:innen ihrer Zukunft zu werden? Hierzu erhielten die Teilnehmenden im Laufe der Veranstaltung Impulse und Praxiseinblicke sowie die Möglichkeit, sich zu Lernformaten, Chancen, Hürden aber auch Unterstützungsbedarf auszutauschen und zu vernetzen.

Schule als Möglichkeitsraum nutzen und gestalten

Der erste Impulsgeber der Veranstaltung war Dr. Felix Peter. Seit dem Jahr 2013 ist er in der schulpsychologischen Beratung des Landesschulamtes Sachsen-Anhalt tätig und beschäftigt sich u.a. intensiv mit dem Thema „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“. Er  hält das Thema „[…] mittlerweile für so wichtig, wie das Lernen von Lesen und Schreiben.“ Es sei ein Querschnittsthema von Schule, das den Kern unserer Existenz berührt: unsere Lebensbedingungen und deren Sicherung. In seiner Arbeit schlägt Peter die Brücke zwischen Klimaveränderungen und der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Gleichzeitig ruft er dazu auf, Schulen als Resilienz-Zentren zu denken und zu gestalten.

In seinem Impuls führte er weiter aus, dass der Kontext Schule die Möglichkeit bietet, die Wirksamkeitsüberzeugungen der Einzelpersonen – Schüler:innen sowie Lehrkräfte – auf mehreren Ebenen zu stärken. Dazu zählt sowohl die individuelle Selbstwirksamkeit („Ich kann das“) als auch die kollektive Wirksamkeit („Wir können das gemeinsam“) und die partizipative Wirksamkeit („Mein Engagement bringt die Gruppe voran“). Schule sei ein Möglichkeitsraum für alle Beteiligten; ein Ort, um neue Standards vorzuleben und durch Partizipation auf allen Ebenen zu ermöglichen. Mit Verweis auf den Bildungsauftrag von Schule, demzufolge diese „insbesondere [an]gehalten [sei], die Schülerinnen und Schüler zu verantwortlichem und ökologisch nachhaltigem Handeln in einer von zunehmender gegenseitiger Abhängigkeit und globalen Problemen geprägten Welt für die Bewahrung von Natur, Leben und Gesundheit zu befähigen“ (§ 1 Abs. 2 SchulG LSA), rief Peter dazu auf, diesen Möglichkeitsraum zu nutzen und zu einem Schwarm von Gestalter:innen zu werden. Denn: „Schulen sind schwarmrelevant“, so Peter. Daher sei die Mitgestaltung vorzuleben und zu unterstützen.

Bildung transformieren

Wertschätzung, Beziehung, Partizipation, Verantwortung & Sinn als unabdingbare Grundlage

Die zweite Impulsgeberin und gleichzeitig Hauptrednerin des Tages war Margret Rasfeld – ehemalige Lehrerin, Schulleiterin, Autorin und Mitbegründerin sowie derzeitige Geschäftsführerin der Initiative Schule im Aufbruch. Seit vielen Jahren setzt sie sich mit ihrem weitreichenden Erfahrungsschatz aktiv für eine Neuausrichtung der Schulbildung nach Leitlinien der Bildung für nachhaltige Entwicklung ein. Als „Mutmacherin“ wirbt sie dafür, Schule im Sinne eines ganzheitlichen Bildungsansatzes zu transformieren.

Gleich zu Beginn ihres Impulses betonte Margret Rasfeld, dass die „wirkmächtige Institution Schule“ im Großen und Ganzen noch immer nach veralteten Prinzipien arbeite. Selektion und Konkurrenz, eine kognitive Ausrichtung sowie wenig Freiraum für Kreativität seien noch immer an der Tagesordnung. Statt einer gesamtheitlichen und übergeordneten Themeneinordnung stehe die Zerstückelung in (Themen-)Häppchen auf dem Lehrplan. Statt Einfluss, Selbststeuerung und Selbstreflexion erleben Schüler:innen noch immer  Fremdbestimmung, Bewertungen und Kontrolle. Statt sinnhaftem Handeln dominiere beispielsweise das „Als ob Lernen“ und die „Arbeitsblätterkultur“ vielerorts noch stark den schulischen Alltag. Hier müsse ein systemweiter Kultur- und Haltungswandel vonstattengehen – und damit die Themen Wertschätzung, Beziehung, Partizipation, Verantwortung und Sinn auf die (Bildungs-)Agenda kommen.

Motivation, Selbstorganisation, Wirksamkeit und Ambiguitätstoleranz als Mindeststandard

Beim Thema Bildung für nachhaltige Entwicklung stehe die Gestaltungskompetenz der Schüler:innen im Mittelpunkt – so Rasfeld weiter. Hier lohne der Blick auf drei verschiedene Ebenen: das Lernen durch partizipative Lernformate, das forschende Lernen sowie die transformative Bildung. Daneben gelte es, Schule als ökologischen Lernort auf allen Ebenen umzugestalten. Dies beinhaltet u.a. die Bereiche Energie, Ernährung, Abfallvermeidung, Geländegestaltung und Beschaffung. Schule sei auch dazu aufgerufen, „sich gedanklich und räumlich [zu] öffnen”, betont Rasfeld. Es gelte sich einzumischen, global zu denken und lokal zu handeln. Als minimale Standards des künftigen Lernens sieht die Impulsgerberin den Erhalt der Lernmotivation, die Selbstorganisation des Lernprozesses, das Erfahren von Selbstwirksamkeit sowie die Beförderung der Ausbildung einer starken Ambiguitätstoleranz. Schüler:innen bräuchten einen guten Grundstock an Orientierungswissen – u.a.  zu den Themen Demokratie und Nachhaltigkeit. Auch die Fähigkeit, erlernte Denk-, Fühl- und Handlungsmuster zu erkennen, hinterfragen und eigene Haltungen zu entwickeln, müssten weiter gestärkt werden.  So seien sie gut ausgestattet, um „die Welt zu verändern“.

Die Lernformate Verantwortung, Herausforderung und Frei Day

Damit es zu sichtbaren Veränderungen im Kontext Schule kommen kann, brauche es entsprechende Lernformate und Räume – so Margret Rasfeld. Exemplarisch stellte sie die (folgenden) Formate Verantwortung, Herausforderung und Frei Day vor:

„Verantwortung“: Lernen durch Engagement im sozialen Umfeld

Im Zentrum des Formats, welches als zweistündiges Schulfach fest im Curriculum verankert ist, steht die dreifache Verantwortung: für sich selbst, für Mitmenschen und für unseren Planeten. Vom Computerkurs für Senioren, über Alltagshilfe für Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen bis hin zu Lernpatenschaften an Grundschulen sei hier alles Mögliche denkbar. Es läge an den Schüler:innen, ihr Umfeld zu analysieren sowie mögliche Handlungsfelder zu entdecken und aufzuschließen. Fachliches Lernen und Engagement im Gemeinwesen gehen hier Hand in Hand. Zudem erfahren Schüler:innen Wirksamkeit durch die Übernahme von Verantwortung in realen Kontexten.

Herausforderung“: Lernen über das soziale Umfeld und den Themenplan hinaus

Bei diesem Format stellen sich Schüler:innen in kleinen Gruppen bis zu drei Wochen einer selbstgewählten Herausforderung. Dabei gilt: Raus aus der eigenen Komfortzone und dem gewohnten Umfeld. Dafür erhalten die Schüler:innen fünf Euro pro Tag. Die eher kleine Zuwendung verfolge ein größeres Ziel, wie Rasfeld weiter ausführt: „Die Schüler:innen sind gefordert zu kommunizieren. Sei es mit der Kirchgemeinde oder dem Bürgermeister im Ort: Sie müssen sich um Unterkunft und Essen, alles Notwendige selbst kümmern.“ Nach spätestens zwei Dritteln der Zeit seien die Schüler:innen meist „hart am Limit“, wie die Impulsgeberin betont. Umso stolzer und gestärkter seien die Schüler:innen aber, wenn sie ihr selbstgestecktes Ziel gemeinsam erfolgreich gemeistert haben.

Ergänzend zum Format „Herausforderung“ waren die drei Schüler:innen Helena Burghoff, Levke Rabe und Laurenz Nahratz vom Lyonel-Feininger-Gymnasiums Halle (Saale) vor Ort und teilten ihre Erfahrungen. Wie die gesamte 8. Klassenstufe hatten auch sie im letzten Schuljahr die Möglichkeit, eine Woche die Unterrichtsstunden ihrer Klassenlehrerin zu nutzen, um eine „Corona-Variante“ des Formats „Herausforderung“ als Pilotversuch umzusetzen. Erschwert wurde die Planung jedoch nicht nur von COVID-19 selbst, sondern auch vom Hochwasser in und um Halle. In kleinen Schüler:innengruppen schafften sie es dennoch, größere und kleinere Vorhaben in die Tat umzusetzen – darunter ein Ausflug ins Schwimmbad, eine Übernachtung in der Schule und ein Tag ohne digitale Medien. Die Schüler:innen sammelten eigenständig Ideen, trafen Absprachen und organisierten die verschiedenen Aktivitäten. Eine wichtige Erkenntnis, die alle Schüler:innen gewonnen haben: feste Zeiten und Treffen müssen abgesprochen werden. Klassenlehrerin Anne Geiß zieht ein sehr positives Fazit: „Ich habe mich durchgängig gefreut und war stolz darauf zu sehen, wie toll meine Schüler:innen ihre Herausforderung annehmen und umsetzen.“

„Frei Day“: Lernen durch interessensorientierte Projektarbeit

Das dritte Lernformat, welches Margret Rasfeld vorstellte, greift am stärksten in das System Schule ein. Beim „Frei Day“ haben die Schüler:innen die Möglichkeit, mindestens vier Stunden pro Woche innerhalb der Kernunterrichtszeit interessensorientierte Projektarbeit an selbstgewählten Zukunftsfragen umzusetzen. Dabei soll jahrgangsübergreifend gearbeitet werden. Die Umsetzung der Projekte kann an der Schule, in der Gemeinde oder innerhalb der Stadt erfolgen. Orientierung bei der Themenfindung bieten die 17 globalen Ziele für eine nachhaltige Entwicklung. Je nach Themenschwerpunkt können Frei Day-Projekte einige Tage oder auch Jahre dauern. Die Lehrkraft wird dabei zur Lernbegleitung und zum Coach. Die Themenfindung, Planung und Umsetzung obliegen den Schüler:innen. „Keine Ziffern“ ist das Credo – sprich, Noten sind im Format nicht erwünscht. Im Vordergrund steht der überfachliche Kompetenzerwerb.

Im Anschluss an den „Frei Day“-Impuls öffnete Margret Rasfeld im sich anschließenden Praxisteil ihre „Erfahrungsschatzkiste” und tauschte sich mit den Teilnehmenden zu den drei Lernformaten aus. Dabei wurde ersichtlich, dass der „Frei Day“ zwar das größte Interesse bei den Teilnehmenden weckte, die Umsetzung im Land jedoch mit großen Hürden verbunden wäre.

Ermutigt, gestärkt, tatfreudig und hoffnungsvoll

So lautete das Fazit der Teilnehmenden in einer abschließenden Feedbackrunde. „Ich freue mich, nicht allein mutig zu sein!“, fasste eine Teilnehmerin ihre Eindrücke zur Veranstaltung und dem Austausch mit Kolleginnen und Kollegen anderer Schulen zusammen. Auch den anderen Teilnehmenden tat der Input, das Kennenlernen und der Austausch untereinander sichtlich gut. Neben einigen nachdenklichen Stimmen war am Ende der Veranstaltung vom „Anfangen“ ebenso die Rede, wie von „Rebellion“. „Was es nun noch braucht, [sei] ein klares Bekenntnis des Bildungsministeriums zu Lernformaten wie dem Frei Day!“, betonte Elke Noah, Schulleiterin der Gemeinschaftsschule August-Wilhelm-Francke in Magdeburg. Doch ungeachtet dessen, ob und wann es ein offizielles „go“ gibt, seien die Grundsteine gelegt. Eine Vertiefung der begonnenen Vernetzung ist bereits angedacht.

Ausgestattet mit „Mutkarten“ und dem Abschluss-Zitat unserer Impulsgeberin blickt auch das LiGa-Team positiv in die Zukunft: Was immer du tun kannst oder wovon du träumst – fang damit an. Mut hat Genie, Kraft und Zauber in sich. (Johann Wolfgang von Goethe)


Mehr zu den Lernformaten im Überblick:

https://schule-im-aufbruch.de/schule-im-aufbruch/lernformate/

Mehr zum Lernformat Frei Day auf der eigenen Website: https://frei-day.org/
Mehr zur „Mutmacherin“ Margret Rasfeld: https://www.margret-rasfeld.de/

Eine Auswahl zu Publikationen und Vorträgen von Dr. Felix Peter:

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